Wir sind blinde Tyrannen

Ob wir es wollen oder nicht: Wir versursachen oftmals Leid bei unseren Mitmenschen ohne das mitzubekommen. Wir sehen unser eigenes Leid immer am besten. Wenn wir Leid, welches wir bei unseren Mitmenschen verursachen, erfahren, dann geschieht das nicht selten über das Mitleid. Meistens sind wir allerdings einfach blinde Tyrannen.

Ein moralisch gutes und glückliches Leben

Wie lebt man ein gutes Leben? Woher weiß man, was ein gutes Leben ist? Wie definiert es sich?

Die Antwort zuerst: Meme (also Bewusstseinsinhalte, Gedanken oder Elemente der Kultur) und Gene steuern, was uns gefällt, denn sie definieren, was in uns Glück im Sinne von wohligen Momenten auslöst oder sogar ein wohliges Leben ist. Das automatische Bewerten von Konstellationen, Handlungen und Gedanken des Körpers und der Umwelt liefert uns Glücksgefühle. Dieser tiergruppenspezifisch ähnliche, aber individuelle Prozess liefert uns ein individuelles Gefühl für individuelle Moral.

Zur Rechtfertigung gehe ich nun von acht Fällen aus. Ich nehme an, es gibt drei grundlegende Eigenschaften mit je zwei Ausprägungen, die in allen möglichen Kombinationen in der Realität (also Konstellationen) mit positiver oder negativer moralischer Bewertung auftreten und unser Verständnis von Glück und Unglück darstellen.

Der klassische Tyrann ist der Mensch, der mit Unrecht Glück erfährt, dem also Gutes widerfährt, weil oder obwohl er Leid verbreitet. Ich behaupte, dass es solche Tyrannen nur gibt, wenn sie entweder geistig krank[a1] (womit ich mich allerdings nicht beschäftigen will oder werde) oder blind sind. Nur der blinde[a2] Tyrann entwickelt kein Mitleid, nur dieser Ungerechte muss nicht erleiden, wie sich sein produziertes Leid auch auf ihn auswirken würde. In einer gewissen Art und Weise sind Tieresser, Käufer von billig produzierten Klamotten und so weiter blinde Tyrannen. Das ist also das unangenehme Glück der blinden Ungerechten, die Eye-Opener wie Dokus über die Herkunft von Fleisch oder billigen Klamotten bloß kurz konsumieren und schnell darauf wieder vergessen oder verdrängen. Allerdings müsste er mit etwas Wissen und Intelligenz auch leiden, falls er – zwar sonst blind nach außen – nicht blind nach innen ist.

Der gerecht Zufriedene darf mit seinen Augen die Welt erblicken, er wird allerdings auch leiden, wenn er nach außen schaut. Die Welt ist voller Leid und man selbst muss voller Mitleid-Leid sein. Ist er jedoch blind, so findet er allerdings auch keinen Anlass zum Leiden beim Blick nach innen. Ein guter Mensch leidet weniger, insbesondere dadurch, dass er mit sich selbst im Reinen ist. Ist man das nicht, kann man weniger Zufriedenheit und Ausgeglichenheit nach außen tragen. Moralisch gute Menschen haben weniger kognitive Dissonanzen, sie tragen daher weniger Chaos in die Welt, welches gerne mal physisch geäußert wird.

Das schlimmste Schicksal erleidet der, welcher leidet und selbst Leid verursacht. Ein schlimmeres Los kann man nicht einmal auf dieser Welt ziehen. Man ist – blind oder nicht – mit sich selbst unzufrieden und dazu erfährt man auch noch Leid von außen.

Sollte man sich entscheiden müssen, ob man Leid erleidet oder[a3] verursacht, so kann man sich sinnvollerweise nur für Ersteres entscheiden: Wer nicht blind ist, erleidet Mitleid, wenn man Leid verursacht, und dazu fühlt er sich schuldig, leidet also Mitleidsleid und Schuldleid. Dagegen erleidet der einfach, also nicht zweifach Leidende, bloß unter dem einen Leid.

Allerdings ist dem allen hinzuzufügen, dass das Empfinden und der Umgang mit dem Empfundenen vollkommen subjektiv sind. Mit allem Leid kann man umgehen lernen und versuchen, dem eigenen Nutzen nicht zu viel fremdes Leid als Argument zu geben: In meinem Nutzen geht ein, wie viel Mitleid ich erleiden muss, wenn ich dies oder das tue. Klar ist, dass ich meinen Nutzen maximieren möchte. Dank Memen und Genen geht das Mitleid ein Stück weit (z.B. im Sinne der egoistischen Gene/Meme) in die Rechnung mit hinein.

Die Welt ist egoistisch und schlecht, aber sie kann durch systematisches Öffnen der Augen verbessert werden, falls Menschen davon nicht völlig abgehärtet und immun werden, was leider zu befürchten ist. Ich würde gerne vorschlagen, dass die ganzen Kinder in China die iPhones in den Apple-Stores zusammenbauen; dass man beim Aldi in der Tiefkühltruhe nicht die Rinderfilets sieht, sondern enge Tierhaltung und eine blutige Schlachtung; und dass man vor dem Griff zu den 10 Bodenhaltungseiern einen Küken-Schredder-Knopf drücken muss und ihr Leid unmittelbar auslösen und dann sehen muss.

[a1] Natürlich sind auch »Gesunde« irgendwann einmal in problematischen Situationen, in denen kognitive Dissonanzen irgendwann merkwürdig gelöst werden, da auch das Mitleid-Leid nur begrenzt ertragen werden kann.

[a2] Blind in diesem Sinne ist natürlich auch der Tyrann, der in seiner eigenen Blase (Regierungsapparat) lebt. Blind ist ein Stück weit auch jeder Internetnutzer, der nicht auf Datenschutz Wert legt und dessen Browser und gesamtes Webdasein benutzeroptimiert gefiltert ist.

[a3] Ausschließendes Oder (XOR)

Moral: neue Grundlagensuche

Ich will nun noch einmal schauen, was Grundlage meiner Moral ist bzw. was Moral in meinen Assoziationen ist. Klar ist für mich zunächst, dass es keine Kategorien gibt, wenigstens zunächst nicht. Später kann ich versuchen, Begrifflichkeiten vermeintlich existierenden Gruppen von Fällen zu zuordnen und damit scheinbar zu kategorisieren. Nun denn, ein Test:

Warum trete ich niemanden in den Tunneln der U-Bahn in Berlin die Treppen hinunter? Ich könnte Action mögen und Freude an der kaum zu steigernden Auflösung der Optik der Realität haben, dazu ist der Sound dieser filmisch vorstellbaren Sequenz vermutlich grandios. Ich habe nun also ein Motiv gefunden. Eine Gegebenheit würde sich nicht nur künftig leicht finden lassen, sondern fand sich schon. Mittel zu einer solchen Tat hatte und habe ich auch fast immer. Warum also trete ich keine Menschen die Treppen hinunter, wie es dieser Tage von anderen Menschen verübt wurde? Ich stelle zunächst folgendes fest: Ich finde es unmoralisch, ich würde es nicht tun und ich hätte möglicherweise negative ökonomische oder physische Folgen, da man mich infolgedessen durch »Zivilcourage« angreifen könnte oder man mich zu Entschädigungszahlungen oder einem Gefängnisaufenthalt verurteilen würde.

Im Fall von Bangladesh-Mode, also bei »blinden Tyrannen«, stelle ich für mich fest, dass ich Klamotten aus fragwürdigen Produktionsbedingungen kaufe oder trage (ich praktiziere), dass ich es nicht moralisch finde, einen Nutzen von diesem Verhalten habe, aber keine negativen ökonomischen oder physischen Folgen.

In dem ersten Block fehlt nun noch ein drittes Beispiel für ein kurzes Fazit: Ich finde es unmoralisch, sonntags einzukaufen, weil ich denke, dass die Verkäufer sonntags ungern arbeiten (ich würde sonntags auch ungerne arbeiten). Ich kaufe dennoch manchmal sonntags, wie auch mal um 23:45 Uhr, ein. Einen Nutzen habe ich von diesem praktizierten Verhalten, negative Folgen allerdings nicht.

Betrachtet man diese drei Beispiele, so fällt auf, dass ich hier meinen Moralgefühl nach nur unmoralisch handle, wenn ich keine negativen ökonomischen oder physischen Folgen zu befürchten habe. Das erscheint mir nicht wie ein wünschenswertes Ergebnis. Nicht nur deshalb verweile ich hier nicht.

In Fußgängerzonen, S- oder U-Bahnen sieht man regelmäßig Bettler. In den meisten Fällen denke ich dabei nicht an etwas bandenmäßig Kriminelles, sondern sehe es als moralisch richtig an, Geld zu geben, obwohl ich es in den allermeisten Fällen nicht tue. Graduell nehme ich mich aus der moralischen Pflicht aus, wenn mein Kontostand einen höheren Betrag hat, aber nicht im Haben, sondern Soll ist. Bettler ignorieren, ist ein Verhalten, das ich also oft praktiziere. Negative ökonomische oder physische Folgen habe ich dabei nicht. Das Bettlerbeispiel unterscheidet sich zunächst kein bisschen vom Bangladesh-Beispiel hinsichtlich der Kriterien Moral, Praxis und negative Folgen. Doch es wird sich noch ein Unterschied herauskristallisieren.

Betrachten wir darauf nun Beispiel 5 von 6: Es gibt Menschen, die beschmieren Sitze in Bussen. Das tue ich nicht – und habe ich meiner Erinnerung nach nicht ein einziges Mal in meinem Leben in Erwägung gezogen. Ich finde es sogar unmoralisch. Negative Folgen hätte dieses Verhalten meistens jedoch auch keine, da man dies heimlicher machen kann als das U-Bahn-Treppen-herunter-treten oder Ähnliches. Sicher, würde ich erwischt werden, hätte ich Schadensersatz zu leisten, aber das Risiko ist nun mal sehr gering – nehme ich an. Ich tue etwas nicht, was ich nicht moralisch finde, wobei ich keine negativen Folgen hätte - Bingo! Damit wäre meine Moral nicht so simpel auf negative Folgen basierend. Doch ich muss mich hier enttäuschen. So einfach ist das nicht. Beim U-Bahn-treten bin ich vom eher absurden Gedanken ausgegangen, dass es einen Nutzen für mich in einer solchen Situation geben könnte, wie z.B. Action, alternativ dienen mir Hass oder Rache als Motivation, falls mir das Opfer bekannt wäre. Sicher, auch das ist weit hergeholt. Doch beim Beschmieren von Bussitzen sehe ich nicht einmal in dieser Fantasie einen wie auch immer gearteten Nutzen – und ich fahre viel Bus und Bahn mit entsprechender Freude über den ÖPNV. Also meine ich, dass ich hier moralisch handle, weil ich im unmoralischen Handeln in diesem Fall keinen Nutzen sehe.

Wie schaut es nun im Fall 6 aus? Es geht nun darum, wie es ums nicht vegane Essen steht. Ich finde es unmoralisch, tue es dennoch. Negative Folgen hat dies unmittelbar weder ökonomisch noch physisch, wenn man nicht glaubt, dass vegan zu leben gesünder ist. Das ist der klassische Fall der »blinden Tyrannei«, wie ich es immer noch gerne nenne.

Angedeutet habe ich mit der »blinden Tyrannei« und dem Bezug auf einen vorigen Text bereits, dass ich durch die Ausprägungen (0,1) der Merkmale Moral, Praxis und negative Folgen nicht nur unterscheiden kann, sondern noch das Merkmal Mitleid benötige. Doch was sagt es aus? Für die Fälle 1–6 will ich nun in einer daraus leicht abbildbaren Tabelle schauen, wie es a) um die Möglichkeit des Mitleids bei entsprechenden Handlungen steht und wie es b) um die tatsächliche Präsenz des Mitleids bei entsprechenden Handlungen steht: Ich kann leicht Mitleid haben mit dem U-Bahn-Opfer, mit den Nähenden in Bangladesh, mit dem Arbeitenden an Sonn- oder Feiertagen (oder nachts), mit Reinigungspersonal in den ÖPNV-Betrieben oder mit den Kühen und Küken etc. Tatsächlich präsent habe ich für meinen Teil das Mitleid in höchstens 3 der 6 Fälle: Vermutlich hätte ich im U-Bahn-Fall nur in einer Extremsituation kein Mitleid, wenn es sich beispielsweise um einen »bösen« oder »entmenschlichten«[b1] Menschen handelt, der mir vielleicht Leid hinzugefügt hat. Ich erinnere mich dagegen an einige Sonntage, an denen ich kein Mitgefühl mit Verkäufern hatte, aber auch eben an Mitleid in solchen Situationen. Ebenso ist es mit Bettlern in der U-Bahn, wobei ich hier vermutlich deutlich häufiger Mitleid habe, wenn auch nicht in 100% aller Situationen.

Was fällt nun auf? Mitleid rechne ich nun unter die psychischen Folgen, wenn auch unter die kurzfristigen. In dem einen Fall, wo ich diese Folgen am stärksten gesehen habe, habe ich mich nicht unmoralisch verhalten. Allerdings habe ich hier, also im U-Bahn-Fall auch die größten physischen und ökonomischen Folgen zu erleiden. Befreien kann ich mich also vorerst wieder nicht von einer Moralrealität, die meinem Ideal nicht gerecht wird. Doch frage ich mich, ob all diese Folgen nicht nicht-zufällig korrelieren? Wenn ich als Individuum Mitleid empfinde, kann es doch sein, dass andere dies auch so empfinden. Dann kann es doch auch sein, dass Handlungen, die Mitleid auslösen, Objekt von Gesetzen werden, was wiederum Folgen, wie Gefängnis oder Schadensersatz auslöst. Bei dieser vermeintlich genialen, doch auch trivialen Überlegung fehlt zweifellos der ökonomische Aspekt: Das Sitzebeschmieren ist sicher weniger wegen Mitleid verboten als vielmehr wegen der Kosten.

Doch ich will beim Mitleid bleiben: Was wäre eine langfristige psychologische Folge? Zum Beispiel ein schlechtes Selbstbild. Ignoriere ich immerzu mein Mitleid bzw. die Bemitleidenswerten, macht dies etwas mit mir. Ich denke schlechter von mir.

Ist es nun eine Ergebenheit unter dem kategorischen Imperativ, dass ich etwas falsch finde, bzw. etwas als eine Pflicht ansehe? Oder: Wenn der kategorische Imperativ beschreibt, wie ich die Moral sehe, woran würde es liegen, dass er stimmt?

Meinen 6 Fällen entnehme ich, dass die Negation des Merkmals »Moralisch?« und das Merkmal »Mitleid möglich?« äquivalent sind. Natürlich trifft das auch zu für »moralisch« und »würde tun XOR (hätte negative physische OR ökonomische Folgen für mich)«. Also im Klartext: Genau dann wenn ich Mitleid möglich finde, finde ich es unmoralisch. Und auch wenn etwas negative physische oder ökonomische Folgen hat, mache ich es nicht.

Man kann mir nun zu Recht vieles Negatives darauf erwidern, u.a. dass ich es mir zu einfach mache: Was ist, wenn ich über Rot über die Ampel fahre (7); oder was ist, wenn ich Anne Frank vor der Gestapo schützen will, soll oder muss (8), und dabei vielleicht lügen muss, um einen Mord zu verhindern?

Im Sinne des Kategorischen Imperativ habe ich es in Fall 7 mit einer Handlung zu tun, die unmoralisch ist, und ich finde es auch nicht richtig, über Rot zu fahren.[b2] Es ist nicht komplett undenkbar, dass ich dies einmal praktizieren würde, doch eher schwer vorstellbar. Mitleid ist eher kein Faktor hier, da ich nur über Rot fahren würde, wenn ich dabei einen Nutzen hätte, welchen es nicht gäbe, wenn ich jemanden überfahren würde.

Im Fall 8 mag es sicher nicht moralisch im Sinne des kategorischen Imperativs sein, die Gestapo zu belügen, wobei das Lügen unter der Bedingung, dass damit ein hochgefährdetes Leben gerettet werden kann, kaum von irgendeinem Menschen heutzutage als nicht-moralisch bezeichnet werden kann. Betrachten wir zunächst noch Praxis und Mitleid: Für den Fall, dass das Lügen hochgradig bestraft wird, müsste man damit rechnen, dass weniger gelogen wird. Mitleid könnte man der Gestapo wohl kaum entgegenbringen. Hier kommt es sicher auf die genauen Umstände an. Doch sicher ist, dass es komplexer wird, was Praxis und Moralbewertung ausmacht.

Ich sehe nun jedes Beispiel als besser durch eine Gesamtnutzenfunktion einer Handlung erklärt an. Diese Funktion hat als Input Argumente der Wahrnehmung und den menschlichen Charakter, sowie menschliche Fähigkeiten. Der Output ist eine Handlung. Die Funktion verarbeitet in Abhängigkeit vom Charakter (z.B.: Risikoaffinität, erlernte Mitleidsreichweite) das von einer Situation Wahrgenommene und errechnet Folgen, die der bewertet werden und zu einer Handlung führen. Die Folgen (positiver oder negativer Nutzen) einer Handlung in einer Situation können u.a. psychische oder physische sein. Im Großen und Ganzen will ich hierbei wieder auf das Nutzenschema der Nürnberger Schule nach Vershofen (1940) verweisen, wobei ich den Grundnutzen ersetzen würde durch einen physischen Nutzen.

In einem allerletzten, einem 9. Fall will ich nun fragen, ob ich auf der untergehenden Titanic alten Männern den Zugang zu Schlauchbooten zugunsten von Frauen und Kindern verweigern sollte, wobei ich hier einmal nur von jungen Frauen ausgehe, die meinem ästhetischen Ideal (wie auch immer es aussieht) entsprechen; andere Frauen gibt es also hier einmal nicht. Würde ich mich so in der Praxis verhalten? Ich weiß es nicht, ich würde allerdings etwas Verständnis erwarten für ein solches Verhalten, da gesellschaftlich biologisch gerechnet junge Frauen (also vermutlich mit einer gewissen (künftigen oder aktuellen) Gebärfähigkeit) die knappe Ressource sind und ebenso wie Kinder als schutzbedürftige, wertvolle Mitglieder einer Gesellschaft gelten. Ob in Nachrichten oder in Filmen: Neben dem Faktor der kulturellen oder gar genetischen Nähe ist das Prinzip »Frauen und Kinder zuerst« stark verankert. Man hört immer wieder »unter den Opfern waren auch Deutsche«, »unter den Opfern waren auch Frauen und Kinder« oder »in der philippinischen Maschine waren 5 Franzosen, 2 Italiener und auch eine Deutsche«. Soziale Bestätigung könnte ich also durch mein Verhalten erwarten. Physische negative Folgen müsste man bei jeder Selektionsentscheidung auf der Titanic erwarten, da im Angesicht des Todes Unzufriedenheit nicht selten sein dürfte. Welche eigenen Antriebe hätte ich in dem hektischen Chaos auf der Titanic? Mir ist sicher die Dankbarkeit von Verwandten wertvoller als von Fremden, mir ist auch das Lächeln eines Menschen bedeutsamer, wenn der Mensch zu meiner sexuellen Orientierung passt, auch habe ich mehr Mitleid mit Babys als mit Alten. Die Frage ist also geklärt, doch was ist mit meiner eigenen Haut? Das ist vermutlich eine Abwägung zwischen Angst, vermuteten Konsequenzen und Alternativen.

[b1] Es sollte nie vergessen werden, dass Kriege mit realem (im Gegensatz zum Drohnenkrieg vllt.?!) Feindkontakt auf Entmenschlichung aufbauen und aus dem Feind frauenschändende Barbaren oder Tiere machen müssen. Dankbarkeit für das Leben nach 45 ist angebracht.

[b2] In vielen Fällen sehe ich es für Radfahrer oder Fußgänger nicht so, vollkommen gleich, welches Verkehrsmittel ich nutze.

Wieso ich auf oder hinter die Bühne muss(te)

Um Filme zu verstehen, um ihre Bedeutung und ihr Sein und Werden zu durchblicken, darf man sie nicht bloß konsumieren, denn das wäre bloß das Erleben ihrer Wirkung. Erleben ist von vornerein ein Verstehen auf einer niederen Ebene. Verstehen hat immer den Anspruch, möglichst viele Zugänge zu etwas zu erblicken. Alle sind dabei niemals möglich, da wir dann nicht Menschen sein könnten und eine fiktive Position einnehmen müssten, die sowohl räumlich als auch zeitlich überall und nirgends zugleich ist.

Einen mehrfachen Zugang zum Medium Film erhoffte ich mir durch das Erschaffen eigener Werke. Man muss hinter die Kulissen schauen, nicht bloß auf den Sitzen der Zuschauer Platz nehmen. Wie man auch auf der Ladebühne bei Versanddienstleistern gestanden haben sollte, um mehr vom Paketversand zu verstehen, zum Beispiel die moralischen Konsequenzen des Versands, wenn man kein blinder Tyrann sein will.

Das Problem ist, dass man nie weiß, was man alles nicht weiß. Es gibt vielleicht viel bekanntes Unwissen in der Form des Wissens um die Unkenntnis über die genaue Einwohnerzahl des Vatikans, doch das größere Unwissen ist das Unwissen über das Unwissen, welches man zu kleinen Teilen mal verringert, wenn man erfährt oder darüber denkt, welche Perspektiven oder Gedankenarten man noch nie hatte. Man muss nicht notwendig das Unwissen minimieren, wohl aber die Bekanntheit eigenen Unwissens steigern. Je mehr ich von meinem Unwissen weiß, dass ich es nicht weiß, desto weniger denke ich, alles zu wissen, desto weniger hoch ist meine Nase beim Laufen durch die Stadt, desto offener sind meine Augen und desto schärfer mein Gehör: desto seltener bin ich blind, umso seltener bin ich ein Tyrann.

Selbst wenn man allem die Existenz abspricht, was nicht Bestandteil einer menschlichen Perspektive sein kann oder ist, ist es zu viel vom einzelnen Menschen verlangt, alles zu erforschen. Er müsste jedem Menschen zuhören, Interesse an allen haben, an wirklich allen Menschen. Man müsste in alle Rollen aller Menschen schlüpfen, die sie spielen – im eigenen Leben für sich und für andere.

Das Filmekreieren selbst ist zweifellos ein Schritt, aber natürlich ein kleiner. Ich schaue Filme nun etwas anders, sehe und höre anders. Allerdings fehlt mir hier noch deutlich die Tiefe, ich habe nur etwas Wissen mehr als zuvor, auch nur etwas die Bekanntheit von Nichtwissen in diesem Gebiet gesteigert. Jeder Blick war schon viel wert, vor allem sehe ich noch mehr Werte, die mir noch nicht zugänglich sind.

Mal kein blinder Tyrann?!

Irgendwann vor zwei bis drei Jahren hatte ich erstmals beim Joggen in der Abenddämmerung bewusst die Straßenseite gewechselt, als es (bzw. ich) darauf hinauslief, einer einsamen Frau alleine zu begegnen, ihr entgegenzulaufen oder sie zu überholen. Es war die Annahme, dass der Großteil der Frauen in solchen Momenten Angst oder wenigstens ein ungutes Gefühl haben, die mich dazu bewegte, Frauen zu meiden.

Die Frage, ob man sich Frauen gegenüber immer so verhalten sollte, will ich hier nicht stellen. Dagegen glaube ich, dass man sich in jeder denkbaren Situation von allem befreien sollte, was die Sicht auf Leid verhindert. Die Folge ist das Mitleid, dass diesem Wissen folgen müsste.

Blinde sollten einander nicht mit Brillen bewerfen

Ein jeder von uns Menschen ist ein Wesen voller Mangelempfindungen, voller Wünsche und Bedürfnissen. Ein jeder von uns Menschen ist ein Wesen voller Reibungen mit Mittieren, meist den Menschen.

Jeder Mensch ist irgendwo blind, jeder ist irgendwo ein moralisch schlechter Mensch. Doch jeder ist auch ein leidender Mensch. Somit sind wir alle leidende, blinde Tyrannen.

Was daraus folgt? Wäre sich jeder seiner leidvollen und leidschaffenden blinden Tyrannei bewusst, könnte jeder Mensch entspannter, demütiger und auch suchender sein. Suchend sollte ein Jeder sein, der ein Mensch ist. Er sollte suchen nach den Arten seiner eigenen Tyrannei: Wo ist er blind, wo tyrannisiert er (unbewusst) Mittiere (hier über die Menschheit hinaus) – und noch viel wichtiger: Wie macht er seine Tyrannei sich selbst sichtbar? Wenn man immer sieht, was man alles erreicht oder bewirkt (an Negativem), kann ein guter Mensch kein Tyrann sein.

Ich bleibe dabei: Ich will – als gefühlter Misanthrop – Menschen nicht moralisch schlecht machen, sondern lieber als dumm bzw. unwissend sehen. Das macht mich friedlicher. Ich mag mir nicht vorstellen, dass Menschen schlecht sind. Auch den gerne aus der Schublade des Bösen geholten KZ-Wächter will ich nicht böse sehen, obwohl er doch die Folgen seiner Tyrannei (und der seiner Mittyrannen) sehen kann. Doch Sehen als Wahrnehmen ist nicht das Nachempfinden, das Nacherleben. Sehen müssen Tyrannen mit Gefühlen. Gefühle sind die Lösung, doch natürlich braucht man dafür zunächst Außenweltsinne wie Augen, Ohren oder Ähnliches. Menschen haben die Fähigkeit abzustumpfen und aufzuhören, mitzufühlen. Eine widerliche Fähigkeit, ganz gewiss, doch dieses Faktum ist es, mit dem wir uns herumschlagen müssen. Das »herumschlagen müssen« ist natürlich eine ebenfalls widerliche Sache, da diese Bezeichnung entweder von einer besonderen Blindheit oder einem grenzwertigen Humor zeugt, wenn man an misshandelte und getötete KZ-Häftlinge, an Sklaven oder an Gefolterte denkt.