Wahrheit und Demokratie

Was der Einzelne für wahr halten mag, ist in einer Gruppe oftmals irrelevant. Die Wahrheit ist zunächst eine Meinung unter vielen, verdeckt vom Schleier der Pluralität. Irgendeine Meinung, irgendeine unter allen mag jedoch die Wahrheit sein – falls diese überhaupt schon geäußert wurde. Doch was ist das Kriterium für die Wahrheit und wie besteht sie in einer Demokratie?

Wahrheit kann nur für eine assertorische Aussage beansprucht werden, also eine Aussage, die wahr oder falsch sein kann und damit einen Wahrheitswert hat. Diesen Aussagen sind subjektunabhägnig, deskriptiv, können nicht wahr und falsch zugleich sein und können falsifiziert werden.

Ob eine solche Aussage wahr ist oder nicht, ist eine Frage der Definition. Intuitiv ist der Anspruch an für wahr gehaltene Aussagen, dass sie eine Aussage über die Wirklichkeit macht und dieser Tatsache der Wirklichkeit entspricht (Korrespondenztheorie). Will man eine Tatsache in der Welt in einer Aussage beschreiben, sodass diese wahr ist, muss man den Begriff der Tatsache bereits über die Wahrheit definieren. Diese galt es aber über jene festzulegen. Aussagen kann man zudem nur mit Aussagen vergleichen.

Wichtiger als der Bezug zur Wirklichkeit ist, ob sie für wahr gehalten wird. Im Alltag werden Aussagen mit anderen Aussagen verglichen, die bereits das Weltbild des Subjekts prägen und idealerweise bereits ein kohärentes Netz bilden (Kohärenztheorie). So werden Aussagen bzw. Meme übernommen oder abgelehnt. Solange neue Aussagen nicht dem ganzen Weltbild widersprechen und maximal mit einigen wenigen Aussagen Konflikte verursachen, können sie einfach übernommen oder verworfen werden. Wenn dem eigenen Memplex (bzw. Weltbild) wesentlich widersprechende Aussagen einfach und schnell übernommen werden, hat das Individuum größere Probleme. Probleme haben Individuen auch, wenn ihr Weltbild nicht praxistauglich sind (Pragmatismus) oder mit dem sozialen Kontext des Subjekts nicht kompatibel ist (Konsensustheorie).

Demokratien zeichnen sich vor allem dadurch aus, dass alle Bürger auf die Staatsgewalten Einfluss ausüben und ihnen Legitimation verleihen. Welche Aussagen als wahr betrachtet werden, ist in einer Gemeinschaft eine wichtige Frage für die Machtausübung und -Legitimation.

Wie und von wem der Diskurs geprägt wird, und wer damit am Führwahrhalten von Aussagen für die Gemeinschaft entscheidend mitwirkt, soll hier keine Rolle spielen. Wohl aber, wie Wahrheitswerte demokratisch und zugleich pragmatisch Aussagen zugeschrieben werden können. Dies ist etwa beim Bewerten von epidemiologischen Aussagen und ihren politischen Folgen relevant.

Anzunehmen ist zunächst Folgendes: Arbeitsteilung ist aufgrund der Komplexität unserer Gesellschaft notwendig (außer man möchte sich vom materiellen Reichtum aufgrund der hohen Produktivität verabschieden), ebenso daraus folgend auch fragmentiertes Wissen (Niemand kann alles wissen, jeder ist anders spezialisiert.). Außerdem sind Hierarchien unvermeidlich, da egal welcher Wert in der Gesellschaft hochgehalten wird, Mitglieder der Gesellschaft unterschiedlich diesem entsprechen können oder wollen.

Es gibt, diesen Annahmen folgend, nie die ideale Situation, in der alle Mitglieder der Gesellschaft gleichermaßen befähigt sind, sich an einer Diskussion zu beteiligen. Zudem gibt es den nur teilweise einfach zu rechtfertigenden Mangel, dass nicht alle Stimmen gleichermaßen wahrgenommen und ihre Aussagen gleichermaßen ernsthaft bedacht werden. Dennoch gibt es den Anspruch in der Demokratie, dass alle Stimmen gezählt werden: nicht nur an der Wahlurne, sondern auch im Diskurs zuvor (und natürlich auch danach). Die repräsentative Demokratie, aber auch direktdemokratischere Systeme wie die Schweiz, verbinden mittels einer zweistufigen Wahl den Anspruch der Demokratie, alle zu beteiligen, und dem Bedürfnis, der Komplexität gerecht zu werden. Wer unter den die Debatte mitprägenden Kandidaten als Repräsentant gewählt wird, bestimmt jeder Wähler. Wer jedoch zum Kandidaten bestimmt wird, kann nur der Kreis der Interessierten und Engagierten in Wählervereinigungen und Parteien entscheiden.

Was als Wahrheit gilt, was als das gilt, was "die Wissenschaft" zu einem Thema sagt, kann oder sollte nicht jeder gleichermaßen unabhängig von Qualifikation, Interesse und Engagement mitentscheiden. Jeder könnte allerdings – und so würde man den zuvor genannten zweistufigen Prozess zum Beispiel nehmen, aber umkehren – eine Auswahl von Fachleuten zum jeweiligen Thema wählen und die kleinere Zahl der Gewählten könnten sich mit einem größeren Anspruch an Qualifikation Aussagen bewerten und mehrheitlich Wahrheit zuschreiben oder eben nicht. Die Gesamtheit der Wähler müssten beispielsweise eine Zahl von Fachleuten wählen und die kleine Zahl der mit den meisten Stimmen Gewählten dürften mit einer größeren Wahrscheinlichkeit als Fachleute gelten als deren Wähler. Was diese auf ihrem Feld zu sagen haben, ist damit fundierter. Gleichzeitig sind diese Fachleute dann nicht vom Himmel gefallen, sondern demokratisch legitimiert.

Literatur:

Zu Aussagen und Wahrheit: Thomas Zoglauer, Einführung in die formale Logik für Philosophen, Göttingen 2008.