Religion ist die Vegetation am Machtgefälle in Herrschaftssystemen

Die Stabilität von Informationen oder Strukturen ist nie auf Dauer garantiert. Es gibt immer Kräfte, die ihren Verfall bewirken können – von außen oder innen. Solche Strukturen sind überall zu finden. In diesem Beispiel geht es um Geographie und Gesellschaften.

Ein Hang hat, abhängig vom Winkel und dem Boden, immer das Risiko abzurutschen. Und auch eine Gesellschaft kann sich gewissen Dynamiken nicht entziehen. Kräfte von außen oder innen haben das Potenzial, Gesellschafts- und mehr noch Herrschaftsstrukturen aufzulösen.

Erosion, Verfall, Entropie oder, wie man exogene Prozesse hier auch nennen mag, sie zerstören Strukturen. Das ist nicht weiter schlimm[1], doch es gibt auch »Dinge«, die stabilisieren. Vegetation ist der beste Erosionsschutz für den Boden und Religion ist ein unglaublich stabilisierender Faktor in Gesellschaften. Die besten Untertanen sind schließlich die, die postmortale Bestrafung und Belohnung erwarten und ihr ganzes diesseitige Leben dem jenseitigen Leben opfern.

Wie machen Baum und Religionen das? Ganz simpel: Überall dort, wo Strukturen sind, also Energie bzw. Informationen strukturiert sind, also in eine Form gepackt sind, muss zur Aufrechterhaltung der Ordnung Energie investiert werden. Will ein Mensch bzw. eine Behörde solche Strukturen beispielsweise in Dämmen erhalten, so hilft es nicht, sie sich selbst zu überallen. Dämme müssen von Zeit zu Zeit erneuert werden, da neben den aufprallenden Wellen auch noch Wind und Wetter stets daran rütteln. Will ein Herrscher oder ein Herrscheroligopol eine Machtstruktur erhalten, so nützt es auch wenig, wenn sie Prozesse in der Gesellschaft bloß beobachten.

Es muss immer Energie investiert werden. Das macht der Baum zum Beispiel dadurch, dass er Energie mittels Photosynthese aufnimmt und seine eigenen Strukturen, wie zum Beispiel Wurzelwerk, erhält. Würde er über eine längere Zeit keine Energie mehr bekommen, würde er absterben und auch seine Wurzeln wären nicht mehr stabilisierend für den Boden. Mit Wurzeln bindet ein Baum den Boden unter sich.

Eine erfolgreiche Religion nimmt auch Energie, Negentropie[2] bzw. Entropiearmut auf: Das können Humankapital oder Steuern sein – oder weiß der Teufel was. Die steckt die Religion in die Aufrechterhaltung ihrer Strukturen, in die sie ihre Mitglieder bindet. Die Mitglieder sind Teil der Gesellschaft, die dann ein Stück weit an Dynamik verliert. Das gilt vor allem für das Christentum im europäischen Mittelalter. Karl Marx nannte Religion das Opium des Volkes. Es hat beruhigt und die Menschen zufriedengestellt mit ihrer Stellung im Herrschaftssystem. Die Religion ist die Vegetation am Machtgefälle in Herrschaftssystemen.

Da stellt sich natürlich die Frage, was das heute ist, wenn die Stellung von Religionen schwächer ist? Zum einen ist zu beobachten, dass die Bindung von Menschen zu iher Heimat nachlässt, wie auch das Engagement in Vereinen oder Parteien. Aber es gibt noch Institutionen, die binden. Eine These: Noch haben die Leitmedien eine gewisse Bedeutung. Sie (in-) formieren die Massen, sie sorgen theoretisch dafür, dass sich Menschen ihre Meinung bilden, allerdings bilden sie auch Meinungen. Auch für große Medienkonzerne arbeiten Menschen, die ihren eigenen Einfluss ausbauen wollen, und dafür ist es immer hilfreich, nahe an der Macht zu sein. Sie wollen auch selbst Macht und teilhaben, also sind sie nah – was Werte und Meinungen betrifft. Falls die Medienkonzerne nicht zusammenbrechen wollen, oder Chefredakteure nicht kognitive Dissonanzen erleiden wollen, sind sie auf Linie.

Übrigens ist die Vegetation in der Dynamik der Wirtschaft so etwas wie Markenbindung.


[1] Außer vielleicht aus der Perspektive eines Dorfbewohners in einem Dorf an einem Hang, der nicht ganz stabil ist, oder aus der Perspektive eines Herrschers, dessen Untergebenen an den bestehenden Herrschaftsstrukturen wackeln. [2] = negative Entropie