Perispasmos-C1: Eigenes Leid mindern – Leiden lernen
Von Luga Hunger:
Dieses Werk hat in den Abschnitten A1 bis A4 vorgelegt, wie schlecht die Welt ist, und dass das menschliche Leben bloß menschliches Erleiden ist – und nichts weiter. Auch wurden metaphysische Überlegungen (B2, B3) angestellt, die für die bloße Bestandsaufnahme der Schlechtigkeit und Nichtigkeit des Lebens und die nun nachfolgenden Handlungsempfehlungen zwar nicht relevant, aber dennoch rahmengebend sind. Nun folgen die Grundlagen der Handlungsempfehlungen für Einzelmenschlein.
Eins muss also irgendwann als menschliches Tier zur Erkenntnis gelangen, dass eine Existenz ohne Leid unmöglich ist. Eines könnte leicht dahin kommen, wenn mensch Schopenhauer oder Epikur liest. Dann ist das Höchste der menschlichen Existenz die Freiheit von Leid. Warum kann und muss mensch dem leicht zustimmen?
Epikur meinte, dass bei großem Hunger ein einfaches Essen ebenso gut ist wie ein üppiges Mahl. Dazu meinte er, dass auf Dauer einfache Kost die Gesundheit fördert. Auch soll mensch glauben, dass es nichts Positives über das Nichtleiden hinaus gibt.
Schauen wir dazu auf die heutige Zeit. Man könnte den großen Hunger mit Fastfood stillen oder mit vermeintlich Langweiligem wie Gemüse oder Obst. Ich möchte nun einfach zustimmen und aus eigener Erfahrung bestätigt sehen, dass das Leid des Hungers gleichermaßen gemindert werden kann. Wie kommt es aber nun, dass nicht wenige Menschen intuitiv meinen, Hamburger, Pommes usw. würden glücklicher machen als die einfache Kost, obwohl sie nicht widersprechen könnten, wenn ich sage, dass der Hunger gleichermaßen befriedigt ist. Das Leid ist dahin. Wie also kann man hier zur Intuition kommen, dass Epikur Unrecht hatte?
Die Antwort ist einfach: Es gibt viele Leiden. Ein weiteres Leid ist der Appetit. Der will auch gestillt werden, sobald er vermeintlich tolle Dinge zum Essen im Sinn hat (nicht notwendig mehr als Erdachtes). Unter dem Appetit, also dem Sehnen nach etwas mit der positiven Erwartung (Hoffnung), kann man nichts anderes als ein weiteres Leid sehen. Die Welt ist voller Leiden, der Appetit gehört dazu.
Wie befriedigt mensch dieses Leid? Sicher kann Eins einfach den Gelüsten nachgehen. Doch meist ist das Vergnügen dann nicht von langer Dauer. Man muss nämlich oftmals auch auf die Gesundheit achten, auf die eigene Figur oder andere Faktoren des Menschseins im Diesseits. Also gibt es weitere Leiden, die es erschweren, das Leid des Appetits zu besänftigen. Hin- und hergerissen zwischen diesen und jenen Leiden empfiehlt es sich für Menschen, so zu agieren wie es alle vernunftbegabten Tiere auch im Umgang mit dem Geschlechtstrieb bei klarem, nicht von negativen Hormonen befluteten Verstand machen: mit dem Verstand geschickt vorausschauend Gelüsten aus dem Weg gehen. Mensch sollte versuchen, nicht in Gefahr zu geraten, also weder sexuellen Verlockungen sich auszusetzen oder Schokolade ins Haus zu lassen, noch überhaupt unbefriedigt aus der eigenen Wohnung zu schreiten. Weder sollte man mit leerem Magen einkaufen, noch sollte Eines dem favorisierten Typ von Menschlein sexuell unbefriedigt begegnen, wenn es auch der davor noch klare Verstand doch besser wusste.
Ich meine, dass es kein Glück über das Nichtleiden hinaus gibt. Das will ich nochmals verdeutlichen: Wenn ich Hunger habe, leide ich. Lasse ich mich von meinen Appetit leiten und behandle ihn, wenn er mir dann doch mal begegnet, nicht mit aller Besonnenheit, dann leide ich mehr. Gehe ich ihm nach und befriedige meine Gelüste mit dem größten Gelage, das ich mir nur denken kann, so ist am Ende des Essens doch kein Glück mehr übrig über dem Nichtleiden. Während des Essens wirkt jedoch das Glück allem Leid dieser Welt überlegen. Dies ist aber nicht mehr als eine kurze Illusion, die nur allzu schnell platzt.
Was ist diese Illusion? Ist da wirklich kein Glück über dem Nichtleid? Das sind berechtigte Fragen. Ist aber irgendwas wirklich, was nicht von einer erkennbaren Dauer ist? Was ist mit der Fata Morgana oder Luftspiegelung? Wie real ist die Oase, die bei näherem Blick keine ist? Das Glücksgefühl ist allerdings, wie man zurecht einwenden darf, real, wenn man es fühlt, egal, wie lange man es fühlt. Damit gehen mir die Argumente aus und ich muss mich ergeben. Es ist keine Illusion. Stand heute gibt es für mich wohl ein Glück über das Nichtleiden hinaus, aber ein extrem kurzfristiges.
Ich halte für mich fest, dass es, bei meinem gegenwärtigen Stand meines Erkenntnisprozesses, kein langfristiges Glück gibt, welches über dem Nichtleiden steht.
Denn was passiert nach dem Gelage, nach dem Fressen? Weiß man um die anderen Leiden, die neben dem Appetit existieren? Falls ja, muss mensch nun schon recht schnell intensiver leiden als zuvor. Ein schlechtes Gewissen ist bei einem satten Magen in der jeweiligen Einbildung deutlich schlimmer als der Hunger vor dem Mahl. Auch falls Eines nichts von den Leiden im Kopf präsent hat, so treten sie dennoch auf.
Zeichnet man eine Kurve des Leids oder negativen Glücks mit der Zeit auf der x-Achse und dem Glück/Leid auf der y-Achse, so bewegt sich nach Epikur und Schopenhauer die Kurve wellenartig vom tiefen Leid hin zu y=0 und wieder zurück ins negative Glück – immer wieder. Das ist das Leben.
Ich meine dagegen, dass das Leben eher selten die x-Achse überhaupt tangiert, trotz der möglichen Illusionen des positiven Glücks. Außerdem sehe ich die Möglichkeit, mittels drastischer Fehler aus einem Leid zwar ein zwischenzeitliches Nichtleiden (y=0) zu generieren, aber mit der Folge eines deutlich tieferen Leids als zuvor.
Es ist nicht schwer, falsche Entscheidungen zu treffen, die eine hohe Gegenwartspräferenz befriedigen. Der Gang zum Bäcker anstelle des Gemüsehändlers ist eine davon. Mensch befriedigt den falschen Appetit und den notwendigen Hunger mit einer falschen Entscheidung und generiert ein größeres Leid als man es zuvor hatte. Ebenso verhält es sich mit dem Fremdgehen in konventionellen Beziehungen. Oder mit dem pornobasierten Masturbieren anstelle des Masturbierens mittels bloßer Fantasie. Oder mit dem einsamen Spielen auf digitalen Endgeräten anstelle des Lesens nützlicher Bücher. Oder mit dem Sich-Verlieren-auf-Videoplattformen anstelle des Produktivseins. Oder mit dem passiven Sport (TV) anstelle des aktiven Sports. Oder mit dem Schlafen anstelle des Arbeitens.
Unsere Welt ermöglicht es, vielem Leid kurzfristig aus dem Weg zu gehen. Wenn mensch materiellen Wohlstand genießt, kann mensch das Kurzfristige sogar oft wiederholen und damit vermeintlich langfristig auf der Überholspur leben und viel schlafen, viel Sex haben, viel fressen und das Leben genießen. Auch eher durchschnittliche Menschleins in westlichen Gesellschaften haben wohl das Glück, immer weniger Leid aufgezwungen zu bekommen. Das durchschnittliche Menschlein braucht nicht mehr leiden, wenn Es Hunger hat. Vielleicht isst es schon aus Gewohnheit, oder es kann den Hunger schon im Ansatz durch Döner oder Ähnliches beseitigen. Auch Schmerzen infolge von Bewegungen für das Essen sind kaum noch denkbar. Mensch muss keine Jagd mehr durchführen. Falls es irgendwann das bedingungslose Grundeinkommen gibt, muss mensch fast gar nichts mehr. Mensch kann komplett auf Gegenwartsbefriedigung umstellen und braucht nicht mehr zu planen (Wobei mensch sich so natürlich immer noch in den finanziellen Ruin treiben kann, wenn Eines nicht ein bisschen auf die Finanzen achtet). Vielleicht leiden Menschen in Zukunft nur noch infolge ihres eigenen Verhaltens auf mittelbarer Ebene.
Früher war das Leid unmittelbarer als heute. Es stand in direktem Bezug zu Entscheidungen. Dazu sind viele Situationen denkbar. Doch will ich nun zeigen, dass ich heute unmittelbares Leid verhindern kann und dabei mittelbarem nicht aus dem Weg gehe. Ich vermeide jeden Hunger, da ich stetig Zwischenmahlzeiten zu mir nehme und immer den einen oder anderen Schokoriegel zwischen den Backen habe. Ich befriedige mich jeden Tag mehrfach mithilfe des Fastfoods der Sexualität, der Pornografie. Sexuelles Interesse an Mitmenschen habe ich dann kaum noch, da ich praktisch immer gesättigt bin. Wenn es einen neuen Song gibt, lade ich ihn mir sofort herunter und höre ihn direkt in Schleife. Ich nutze den Song ab und sobald ich davon genug habe, höre ich eben den nächsten. Ich brauche nicht mehr zu warten, bis das Radio endlich wieder den neuen, tollen Hit spielt. Ich höre ihn, bis ich total gesättigt bin. Auch gehe ich dem Leid der Bewegung, des Schweißes aus dem Weg, da ich nicht mehr gehe. Ich brauche das Leid des Schweißes und des Muskelkaters nicht mehr. Auch ist das Denken anstrengend. Das Ziel des Denkens ist doch – schon von der Veranlagung im Menschsein selbst – das Nichtdenken, das Fertig-Sein mit dem Denken. Also fange ich gar nicht mehr damit an. Ich lese also nicht mehr, außer Boulevardzeitung, die bilden mir meine Meinung in kurzen, einfachen Sätzen. Und ich kann sie schnell konsumieren. Ich brauche nicht mehr zu grübeln. Ich bin fertig. Ich kann mich geistig ausruhen. Ich bin also nahezu leidlos (nahezu, weil mir beispielsweise eine Präventivdarmentleerung schwer denkbar ist und Appetit oder Lust noch denkbar erscheint).
Was ist nun von alledem die Folge: Ich baue ab, körperlich wie mental. Ich verliere Ressourcen, also Möglichkeiten/Fähigkeiten/Fertigkeiten, mit denen ich etwas bewältigen kann. Ich verliere Fitness und Muskeln. Ich werde ungeduldiger. Ich werde dicker und träger. Kurzum: Ich werde leidanfälliger. Stellt jemand den Geldhahn ab, bin ich total am Ende. Ich kann nichts mehr. Ich werde eher krank und habe mehr Potenzial nach unten (Leid) als nach oben Richtung Nichtleid (y=0).
Was ich von mir zu fordern habe ist Folgendes: Leid, Leid, Leid. Das Leid gehört zum Leben dazu. Es ist notwendig dabei, wie auch andersherum Notwendigkeit besteht. Das Leben ist furchtbar, wir leben es aber dennoch. Es muss sein. Die gute Botschaft ist allerdings, dass wir unser Leid ein Stück weit aussuchen können.[1] Wir können und sollten uns stetig fragen, welches Leid jetzt möglich ist. Wir können nämlich immer ein Leid für uns schaffen, welches späteres Leid weniger wahrscheinlich macht.
Ich kann mich dazu entschließen, zu schwitzen, zu lernen, zu lesen, zu fasten oder auch unter Mitmenschen zu gehen. Ich kann meinen Geist und meinen Körper verbessern durch aktives Leidsuchen. Ich kann danach streben, viele Erfahrungen mit Menschen zu machen. Dabei ist Leid immer inklusive. Daraus kommt mensch stärker hervor. Eines lernt über sich und Menschen allgemein (oder auch speziell). Ich kann danach streben, durch das Sprechen einer Fremdsprache das Leid des Denkens oder möglichen Blamierens in Kauf zu nehmen und daran wachsen. Ich kann ebenso danach streben, zu schwitzen und körperliche Erschöpfung zu erfahren und auch daraus gestärkt hervorzugehen.
Natürlich sollte mensch das eigene Leben nicht übermäßig durch Leid bereichern. Mensch kann an Leid auch zugrunde gehen. Leid kann zu groß werden. Ist ein Menschlein durch aktiv gewähltes Leid oder nicht selbst gewähltes Leid stark belastet, so ist kaum anzuraten, noch mehr drauf zu packen. So ist das Paar Sparsamkeit mit Diät vielleicht nur ein wenig besser als das Paar Diät und Sport. Auch verträgt sich das Leid der Müdigkeit oder einer Verletzung generell mit recht wenig anderen Leiden. Mensch muss bei der Leidwahl bedenken, welche Ressourcen es bereits hat – und welches Leid schon belastet.
Leid gehört zum Leben. Ein gutes Leben gibt es nicht. Aber es gibt immer ein schlechteres Leben. Durch geschicktes Leidmanagement kann mensch ein weniger schlechtes Leben erleben und erleiden, wenn mensch stets die Folgen der eigenen Handlungen bedenkt.
Was kann Leidmanagement leisten? Eins ist langfristig weniger unglücklich, aber paradoxerweise auch kurzfristig durch das nachfolgend noch zu erläuternde Illusionsglück. Nur scheinbar ist dies ein Paradoxon, da es Sinn ergibt, dass Eins glücklich wird, wenn es Aufgaben erledigt hat. Das Erledigen von Aufgaben selbst macht natürlich nicht glücklich, das ist nämlich das Leid. Menschen müssen also Leiden lernen. Sie müssen weise sein, um zu wissen, welches Leid zu erleiden ist und wann welches vermieden werden kann.
Menschleins müssen stets wachsam sein und kehrt machen, wo es nach Glück riecht. Die Verlockungen des Glücks sind Irrwege in die depressiven Tiefen des Unglücks. Erwartet Eins Glück aufgrund eines zur Hoffnung verleitenden Zeichens, so ist dies stets ominös; eben weil nichts mit größerer Sicherheit als ein Omen des hereinstürzenden Unglücks gedeutet werden darf.
[1] Jedenfalls gibt es Meme, die, wenn sie uns befallen (wie über diese Schrift), zu guten Entscheidungen führen können.