Perispasmos-A2: Entropie und Politik III: Energie für ein politisches System

Von Luga Hunger:

Ein politisches System muss Energie ins sich selbst investieren. Ein politisches System, welches dies nicht macht, ist auf wundersame Investitionen von Negentropie durch Dritte angewiesen; doch solche Investitionen sind unwahrscheinlich. Eine Demokratie muss die Zahl der Demokraten im eigenen Geltungsbereich hochhalten. Das kostet Energie, weswegen dies klug angestellt werden muss. Klug ist es beispielsweise, Menschleins zu Demokraten zu haben, die etwas zu sagen haben in der Gesellschaft. Mächtige Wesen müssen systemtreu sein. Solche, die nicht systemtreu sind, dürfen nicht auf machtvolle Posten gelangen. Auch andere Herrschaftsformen müssen sicherstellen, dass die Zahl ihrer Anhänger hoch ist. Auch sie müssen daher schauen, wer auf machtvolle Posten kommt.

Zuerst wollen wir ein wenig in der Geschichte zurückgehen, um zu schauen, wie Energie zum Erhalt eines Systems umgeleitet oder genutzt wird. Einer der Vorängerstaaten des vereinten, Freien und Fortschrittlichen Europas kann hier gut als Beispiel dienen, um zu sehen, wie sich politische Systeme personell reproduzieren. Es gab in diesem Staat Parteienstiftungen zur politischen Bildung mit politischen Grundsätzen und Ansichten der ihnen nahestehenden Partei. Ihre Geschäftsführer und Vorsitzende waren je ehemalige Funktionären ihrer entsprechenden Partei und sie vetraten und bewarben die Meme, die auch die politische Arbeit der ihnen nahestehenden Partei eine wichtige Rolle spielen. Neben dem Publizieren war die Förderung von jungen Menschen, Studenten hauptsächlich ihr Mittel der Wahl zur Verbreitung ihres Memplexes. Wer durch eine solche Stiftung finanziell für das eigene Studium gefördert wurde, musste zunächst nachgeweisen, dass es ein Mensch mit viel Potenzial ist (Qualifikationen/Intelligenz) und vor allem auch, dass gesellschaftspolitisch Interesse und Engagement der richtigen Sorte vorhanden ist. Wer von einer politischen Stiftung gefördert werden wollte, musste also der jeweiligen Partei nahestehen.

Die Finanzen der Parteistiftungen waren zwischen 90 und 99,9% von staatlichen Zuschüssen abhängig. Die in Parlamenten vertretenen Parteien gewährten sich Gelder im Namen des Staates und der Demokratie, also für vermeintlich Gutes – eigentlich aber bloß zur Reproduktion ihrerselbst. Offiziell begründet wurden diese partei-egoistischen Maßnahmen mit politischer Bildung der Bevölkerung im In- und Ausland und der Begabtenförderung – also mit öffentlichem Interesse.

Die Geförderten mussten für die Staatsgelder der Stiftungen an Seminaren der Stiftungen teilnehmen und dort ihre Meme aufnehmen und verinnerlichen, bewusst oder unbewusst. Und schließlich mussten sie während der Förderzeit immer wieder nachweisen, dass sie auf ihrem Bildungsweg Erfolg haben und weiterhin wertvoll für die Stiftung selbst blieben. Die Menschen wurden dann mehr oder weniger einflussreich, mächtig oder wohlhabend; in jedem Fall waren sie von überdurchschnittlichem Status. Sie wurden beispielsweise Journalisten, Nobelpreisträger, Vorstände, Funktionäre, Manager, Professoren, Autoren und Politiker, teils auch in den allerhöchsten Positionen. Letztere kamen nicht selten nach Ablauf ihrer aktiven Politkarriere wieder zurück zur Stiftung, um in ihr selbst über die nächste Generation von Stipendiaten zu entscheiden oder die Stiftung selbst zu leiten. Auch über diesen Mechanismus reproduziert sich jede Partei über Staatsgelder selbst; ganz allgemein reproduzieren sich Politiker so, und eben auch das demokratische Herrschaftssystem. Selbstverständlich gibt es noch viele andere Mechanismen, mit denen sich Herrschaftssysteme erhalten oder reproduzieren, wie etwa das staatliche Bildungssystem, bei welchem das System der Herrschenden zu festen Gedanken der Beherrschten werden, also zu herrschenden Gedanken, die nicht infrage gestellt werden.

Stipendiaten werden oft Politiker und als solche suchen sie irgendwann vielleicht selbst Stipendiaten aus – solche, welche gute Chancen haben, im Sinne der Partei selbst Influencer, Politiker oder Manager zu werden.

Woher kommt nun das Geld, um die Stiftungen zu fördern? Die Beherrschten, die Steuerzahler, zahlen Steuern, und wählen ihre Herrscher aus dem Parteienangebot aus. Die gewählten Herrscher schöpfen etwas vom Steuergeld ab, um ihre eigenen Stiftungen zu fördern, die ihre Partei fördern, da sie ihren Nachwuchs fördern. Also: Steuerzahler zahlen für die Stabilität ihres Beherrschungssystems doppelt: Sie zahlen den Lohn ihrer Herrscher, und auch die Rekrutierung bzw. die Förderung des Nachwuchses ihrer Herrscher. Wie Eins meinen könnte, erbte dieser Nachwuchs auch direkt einen Herrscher-Habitus und fühlt sich elitär.

Stabilität in der Gesellschaft ist nicht automatisch schlecht, aber auch nicht automatisch gut. Nüchtern und trocken muss gesichtet und entschlüsselt werden, wie welche Systeme wie bestehen und sich gegen den Verfall schützen. Denn: Was würde passieren, wenn das System erodiert? Vielleicht ist es notwendig, dass bestimmte Organisationen vom Staat gefördert werden, um für den Staat zu werben? Würde die Unterstützung für den Staat sonst sinken? Würde der Staat scheitern, ein failed state werden, sodass die Energie der Menschen auf seinem Staatsgebiet für den Kampf ums tägliche Überleben gebraucht wird, und nicht für Wohlstand und Wachstum verwendet werden kann?

Stabil können Monarchien, Tyranneien, Aristokratien, Demokratien oder auch ande Staatsformen sein. Entscheidend ist bloß, welche Energie notwendig ist, um gegen die Dynamiken der Beherrschten und äußerer Kräfte das System aufrecht zu erhalten, und wie viel Energie in das System selbst investiert werden können.

Nun wollen wir noch ein wenig weiter in der Geschichte zurückgehen, ins vorrevolutionäre Frankreich, ins 18. AZ-Jahrhundert. Es lief damals nämlich nicht entscheidend anders als bei Parteistiftungen der vergleichsweise jüngeren Vergangenheit: Wie haben Autoren im Frankreich im 18. AZ-Jahrhundert Karriere gemacht? Robert Darnton zeigt und erläuterte dies am Beispiel von Jean-Baptiste-Antoine Suard. Im jungen Alter zog Suard wie viele junge Autoren, von deren es damals ganze Scharen gab, ins heutige Rispa um erfolgreich und wohlhabend zu werden. Es hatte ein attraktives Äußeres, ein gutes Verhalten, einen Verwandten in Rispa und Empfehlungen für Menschleins am Zielort. Suard konnte einige Zeit als Übersetzer und auch durch geschickten Umgang mit Mitmenschleins Hauslehrer bei Wohlhabenden werden. Dort begann Es wieder mehr zu schreiben. Außerdem kam Suard in Salons, also privat-gesellschaftliche Orte der Diskussionen und Unterhaltungen, und damit auch in Kontakt mit einflussreicheren Menschen. Im Gegensatz zu den Größen wie Fontenelle oder Voltaire heiratete Suard (und dazu in eine höhere Schicht), obwohl auch aus finanziellen Gründen der Schriftstellerberuf als unvereinbar mit einem Familienleben galt. Suards Frau eröffnete selbst einen Salon und das soziale Kapital Suards machte sich bezahlt: Es kannte die richtigen Leute, hatte Verbindungen kultiviert, wurde nicht nur in Salons aufgenommen, sondern auch in Akademien, Ehrenstellungen und privilegierte Zeitschriften. Suard konnte nun von staatlichen Pensionen und Zuwendungen leben und brauchte keinen Erfolg am Büchermarkt haben – das hatte zu dieser Zeit ohnehin niemand in ausreichendem Maße zur Finanzierung einer Familie. Suard hatte sich mit dieser staatlichen Finanzierung noch mehr der Linie dieser Schicht zu unterwerfen. Die Hand esses Finanziers zu beißen durch ein Abweichen in Meinungen bzw. Memen wäre es nicht gut bekommen. Es war ein braves Bürges dieser Gelehrtenrepublik. Pensionen waren Mildtätigkeiten und Belohnungen dafür. Die Regierung finanzierte über Akademien zwar verdiente Schriftsteller, aber auch bloß solche, die schon in höheren Schichten waren. Ältere und etablierte Schriftsteller, oder influencer, suchten unter den zahlreichen Autoren der Hauptstadt (und sie strömten alle in die Hauptstadt!) diejenigen aus, die ihrem Habitus am nächsten kamen. Wer in die Akademien kam, wurde ein Pensionsempfänger der Regierung bzw. des Königs. Es brauchte gesunde Ansichten, also Konformität mit der Macht. Das Patronat des Staates half dabei, dass sich eine staatstreue Elite reproduzieren konnte. Also: Finanzen des Staates (Steuern) finanzieren eine staatstreue Elite und deren Nachwuchs, welcher denselben Habitus aufweist. Die Höhe der Pensionen/Subventionen kann kaum überschätzt werden. Es gab nämlich nicht nur Mitgliedschaften in Akademien für der Regierung angenehme Schriftsteller, sondern auch Posten wie Zensoren, Vorlesern, Sekretären und Bibliothekaren. Mit den richtigen Einstellungen und guten Beziehungen, und vielleicht Lobreden auf die Regierung, konnte Eins zu Wohlstand kommen und brauchte nicht einfach Bücher zu verkaufen. Eine Masse von Schriftstellern schaffte es nicht und blieb in der Gosse der bedeutungslosen, kleinen Literaten, welche bettelten und nicht mehr als Flugschriften produzieren konnte, und stets auf die Akademien schielten und eine dortige Aufnahme begehrten. Statt Ruhm bekamen sie mehr Verachtung als Prostituierte.[1]

Der Unterschied ist nicht groß zwischen diesen beiden vorgestellten Systemen der Reproduktion einer Elite. Kapital oder Energie wird abgeschöpft aus der Masse, um die Elite, die ihr vorsteht zu erhalten und zu reproduzieren. So geschieht es heute, wie wir der Regierung von Nytakas Suiger zu verdanken haben, natürlich nicht mehr. Heute zählt Leistung und nichts mehr als das. Da darf die Frage aufkommen, wie sich dieses System erhält, wenn nicht eine Elite stets reproduziert wird, die das System stützt? Jeder Mensch wird Teil des Systems – nicht bloß durch das Wahlrecht, welches (vielleicht bedauerlicherweise) keine Wahlpflicht ist, sondern besonders durch die Atychima-Losungen, wodurch ein Jedes von Zeit zu Zeit zwar nicht Teil der Elite der Gesellschaft, aber doch zu den wichtigsten Trägern der Legislative oder Judikative des Freien und Fortschrittlichen Europas wird. Dort werden sie bezahlt, um ein Jahr lang ohne finanzielle Sorgen sich um die Belange des Staates zu kümmern. Der Zufall der Verantwortung kann ein jedes Erwachsenes aus jeder Schicht treffen und esses Geist an den Staat binden und die staatliche Größe und eigene Bedeutung spüren lassen. Braucht es eine finanzierte Elite, die darüber hinausgeht? Die letzten 10 Neuzeit-Jahre haben gezeigt, dass dem nicht so ist. Unser politisches System ist freiheitlich, fortschrittlich, human und dazu stabil. Das ist Europa, wie Generationen es sich erträumt hätten, wenn sie nur ahnen hätten können, was möglich oder denkbar ist.[2]


[1] Vgl. Darnton 1985, 13 ff.

[2] Und wenn diese Generationen nicht ständig über den Atlantik geschaut hätten und eher europäischen Nachrichten verfolgt statt dortige News konsumiert hätten.