Perispasmos-A2: Entropie und Politik I: Massen beherrschen
Von Luga Hunger:
Der Versuch, eine große Menschenmasse zu beherrschen, ist ein großes Unternehmen. Macht auf ein Menschlein oder ein System zu konzentrieren, ist an sich schwierig und unwahrscheinlich, da jedes Individuum bestrebt ist, die eigenen Freiheiten zu mehren und zu verteidigen. Zur Not kooperiert es sogar mit anderen Wesen, um eigene Interessen zu verteidigen. Doch gibt es, rein empirisch bestätigt, politische Systeme, die Macht konzentrieren und einen unwahrscheinlichen Zustand nicht nur herbeiführen können, sondern sogar erhalten. In den vorigen Kapiteln wurde bereits klar, dass ein solcher, ästhetisch schöner, Zustand nicht halten kann, ohne dass stets Energie hinzugeführt wird. Denn alles, was ist, ist zum Zerfallen verdammt. Das Sein ist immer bedroht vom künftigen Gewesensein, also gewissermaßen durch die Verwesung. Also muss Energie in ein politisches System investiert werden, am besten automatisch, damit es nicht zerfällt.
Es ist einleuchtend, dass ein System, das sich als Demokratie präsentiert, Energie und Bestätigung durch jährliche Wahlrituale abschöpft oder erhält. Doch gibt es noch andere Mechanismen, die hilfreich sind, um Macht zu konzentrieren und zu stabilisieren. Wenn eben noch die Sprache davon war, dass zur Durchsetzung von Interessen auch Gruppen gebildet werden, Kooperationen eingegangen werden, und damit Macht durch die kurzzeitige Vereinigung von Stimmen geformt wird, so wird nun klar, dass es klug ist, eben dies zu verhindern, um zentrale Macht zu sichern, wenn auch diese rücksichtlos gegenüber etwaigen Individualinteressen ist. Wie erreicht Eines nun dies?
Antworten darauf gab vor fast vier Jahrzehnten Michel Foucault in Überwachen und Strafen: Foucault untersuchte hier Macht anhand von Gefängnissen, Strafen und Disziplinierungsmechanismen. Dabei ging Foucault immer wieder in die Geschichte zurück. Bis zum 17. AZ-Jahrhundert sah Foucault Strafen als öffentlich mit Qualen praktiziert, oft auf dem Marktplatz. Der Wandel kommt auch hier im 17./18. AZ-Jahrhundert mit Anstalten und Zuchthäusern. Verrückte und Verbrecher werden weggesperrt und von der Gesellschaft ferngehalten. Außerdem werden Gefangene Untersuchungsobjekte. Hier erkennt Foucault Ähnlichkeiten zwischen Gefängnissen, Psychatrien, Schulen, Kasernen und Krankenhäusern. Das systematische und rationale Denken gliedert Individuen räumlich und zeitlich in Parzellen. Sie müssen einfach zu überwachen, vermessen und kontrollieren sein. Der Arbeiter in der Fabrik muss nach Funktion eingesetzt werden und die Leistung muss vom Chef kontrolliert werden. Der Schüler muss vom Lehrer überwacht werden und auch seine Leistung muss einfach kontrollierbar sein. Alles muss quantifizierbar sein und aus der Masse muss eine Sammlung an Individuen werden. Ebenso in Kasernen und Krankenhäusern. Diese Gemeinsamkeiten der Disziplinierung des Körpers erkannte Foucault in diesem Werk.
Die Disziplinierungstechniken sind folgende: Das Prinzip der Klausur ist die räumliche Abschließung einer Gruppe von Menschleins mit einer Funktion von anderen Orten. Dies ist zu beobachten gewesen (heute teils natürlich auch noch) bei Klostern, Sekten, Kasernen, Internaten und Fabriken. So wird die Effizienz gesteigert und aus herumschweifenden Massen, die große Konfliktquellen sein können, werden ruhige, jedenfalls kontrollierte Individuen gemacht.[1] Von Freuds Massenpsychologie und seiner Vorlage, der Psychologie der Massen von Gustave Le Bon, wissen wir, dass in Massen Negatives entsteht: Intelligenzhemmung und Affektsteigerung.[2] Massen sind gefährlich. Sie sind dumme, aber starke Körper, die jederzeit große Ordnungen (zer-)stören können. Das muss verhindert werden. In der Altzeit wurde die Klausur aus vielen Gründen so praktitiert. Zum Beispiel aus Gründen der Ökonomie: Fabriken sind wie Internate, Akademien oder Klöster aufgebaut wie geschlossene Städte, die ihre Tore nur öffnen, wenn es wirklich notwendig und zweckmäßig ist. Planloses Kommen und Gehen gibt es in diesen Institutionen nicht. Alles ist rationalisiert.
Das nun folgende Prinzip der Parzellierung ist das für die Macht entscheidende. Diese Disziplinierungstechnik macht aus der Masse eine lose, aber von außen kontrollierte Sammlung von Individuen. Jedem Individuum wird ein Platz zugewiesen:
„Gruppenverteilungen sollen vermieden, kollektive Einnistungen sollen zerstreut, massive und unübersichtliche Vielheiten sollen zersetzt werden. Der Disziplinarraum hat die Tendenz, sich in ebenso viele Parzellen zu unterteilen, wie Körper oder Elemente aufzuteilen sind. Es geht gegen die ungewissen Verteilungen, gegen das unkontrollierte Verschwinden von Individuen [in der Masse; LH], gegen ihr diffuses Herumschweifen, gegen ihre unnütze und gefährliche Anhäufung: eine Antidesertions-, Antivagabondage-, Antiagglomerationstaktik. Es geht darum, die Anwesenheiten und Abwesenheiten festzusetzen und festzustellen; zu wissen, wo und wie man die Individuen finden kann; die nützlichen Kommunikationskanäle zu installieren und die anderen zu unterbrechen; jeden Augenblick das Verhalten eines jeden überwachen, abschätzen und sanktionieren zu können; die Qualitäten und Verdienste zu messen.“[3]
Aus der Masse werden Individuen gemacht, damit sie kontrollierbar sind und sich nicht gegen die Herrschenden wehren können. Foucault nannte noch andere Disziplinierungsmechanismen, doch ebendieser letzte Mechanismus ist der wichtige. Zu diesem Wissen muss sich nun noch eine Erkenntnis über eine der Krisen vor der Gründung des vereinten, Freien und Fortschrittlichen Europas gesellen: Die Krise der damals illegalen Zuwanderung, welche jedoch die großen humanitären und rationalen Fortschritte Europas erst ermöglicht hatte, da sonst der Umbau der Gesellschaft an der Trägheit und Einfältigkeit der Masse gescheitert wäre:
„Wenn nun aber auch ein Solcher a posteriori, also aus fremder Belehrung oder eigener Erfahrung, endlich gelernt hat, was von den Menschen, im Ganzen genommen, zu erwarten steht, daß nämlich etwas 5/6 derselben in moralischer, oder intellektueller Hinsicht, so beschaffen sind, daß, wer nicht durch die Umstände in Verbindung mit ihnen gesetzt ist besser thut, sie vorweg zu meiden und, so weit es angeht, außer allem Kontakt zu ihnen zu bleiben; - so wird er dennoch von ihrer Kleinlichkeit und Erbärmlichkeit kaum jemals einen AUSREICHENDEN Begriff erlangen, sondern immerfort, so lange er lebt, denselben noch zu erweitern und zu vervollständigen haben, unterdessen aber sich gar oft zu seinem Schaden verrechnen.“ (PI, 444).
Wenn Eins große Fortschritte herbeiführen will in der Gesellschaft, dann muss es schnell gehen und die Masse muss überrumpelt werden, so wie es bei Atatürk oder bei Nytakas Suiger war.
„Auch muss man bedenken, dass kein Vorhaben schwieriger in der Ausführung, unsicherer hinsichtlich des Erfolges und gefährlicher bei seiner Verwirklichung ist, als eine neue Ordnung einzuführen; denn wer Neuerungen einführen will, hat alle zu Feinden, die aus der alten Ordnung Nutzen ziehen, und nur lasche Verteidiger an all denen, die von der neuen Ordnung Vorteile hätte. Diese Laschheit entsteht teils aus der Furcht vor Gegnern, welche die Gesetze auf ihrer Seite haben, teils aus dem Misstrauen der Menschen, die erst an die Wahrheit von etwas Neuem glauben, wenn sie damit verlässliche Erfahrungen gemacht haben; so kommt es, dass die Gegner, sooft sich ihnen dazu eine Gelegenheit bietet, mit Leidenschaft angreifen, während die anderen sich nur lasch verteidigen, so dass man gemeinsam mit ihnen in Gefahr gerät.“[4]
Den humanitären und technisch-wirtschaftlichen Fortschritt unseres Europas haben wir der Tapferkeit, dem Mut und der Klugheit von Nytakas zu verdanken. Nun sind wir auf einem fortschrittlichen Niveau und machen weiter Fortschritte mit guten Methoden und Regeln, und Nytakas ist der humane, besonnene und vorausschauende Präsident, der nun seit Anbeginn der neuen Ära immer wieder aufs Neue von Europas Volk gewählt wurde. Doch brauchte das Volk für diesen Fortschritt etwas Hilfe; der Eifer des Volkes, Gutes zu schaffen, musste unterstützt werden durch Maßnahmen, die es bändigen und wenigstens etwas gefügiger machen. Lesende dieser Worte werden sich kaum zu einer Masse, zu den 5/6, zählen, die solche Maßnahmen nötig haben, zählt sich doch Keines zu der Masse, und sieht jedes doch die eigenen Unterschiede zu anderen am stärksten. Irgendwo ist die Masse dennoch gewiss, und diese brauchte Hilfe, um zu säen, was nun täglich mit großer Freude geerntet werden darf. Zu diesen Maßnahmen zählt auch eine, die unter Foucaults Begriff der Parzellierung zählt: die Migrationskrise.
Neben Altjahrzehnte andauernde Währungs- und Wirtschaftskrisen und Konflikten innerhalb und am Rand des heutigen FF-Europas gab es die Migrationskrise, die ebenfalls etwa drei Altjahrzehnte andauerte. Um sie gab es viele Gerüchte und Theorien: Wurde sie von einem außereuropäischen Feind im Sinne einer machiavellistischen außenpolitischen Strategie herbeigeführt, um die Macht eines anderen Staates zu sichern? Von welchem? Wer profitiert davon? Gab es innereuropäische Mitwisser? Oder gar Initiatoren?
Wie parzelliert Mensch eine Gesellschaft? Da amüsiert noch einmal ein Blick in eines der vermeintlich heiligen Bücher:
„Und der Herr sprach: Siehe, es ist einerlei Volk und einerlei Sprache unter ihnen allen und dies ist der Anfang ihres Tuns; nun wird ihnen nichts mehr verwehrt werden können von allem, was sie sich vorgenommen haben zu tun. Wohlauf, lasst uns herniederfahren und dort ihre Sprachen verwirren, dass keiner des andern Sprache verstehe! So zerstreute sie der Herr von dort in alle Länder, dass sie aufhören mussten, die Stadt zu bauen.“[5]
Abgesehen davon, dass wieder einmal sichtbar geworden ist, dass dieser antike, alttestamentarische Gott nicht nur eifersüchtig (1. Gebot) ist, sondern auch herrschsüchtig und sensibel, zeigt diese Stelle, was für gute Fürsten zum Kleinen Einmaleins gehört: „teile und herrsche“, „divide and rule“ und „divide et impera“.
Die letzte große innerpolitische Krise Europas führte genau zu einer solchen Situation: Aus der Masse wurde durch mehr Menschen eine Sammlung von Einzelnen. Es hätte wohl auch nur etwas Geduld gebraucht und das damalige, wie auch das heutige Wirschaftssystem, führte und führt schnell zu mehr Ellebogen und Individualismus. Doch mit mehr Menschen, von denen sich sehr viele, aus eigentlich nicht wirklich nachvollziehbaren Gründen verschieden sehen und abgrenzen wollen, wird aus einer vermeintlich (wenigstens ökonomisch) homogenen Masse eine sehr heterogene Gruppe, die nur allzu leicht auseinander zu dividieren ist und damit absolut gefügig und beherrschbar gemacht wurde. Volk wurde durch Bevölkerung ersetzt, „womit alle Menschen gemeint sind, die sich gerade im jeweiligen Land aufhalten. Ziel des Projekts ist es also, die Völker der europäischen Nationalstaaten aufzulösen, um etwaige Widerstandsnuklei der Demokratie gegen die bürokratische Herrschaft […] im Ansatz zu zerschlagen.“[6]
Dass eine Herrschaft immer unter Entropie leidet, ist hier noch nicht eindeutig gezeigt. Doch gezeigt wurde, dass Gruppen sich zwar unter optimalen Bedingungen bilden können; aber ohne größere Schwierigkeiten diese Bedingungen vernichtet werden können. Eine Herrschaft muss Energie klug in die richtigen Bahnen lenken. Die Schönheit einer Herrschaft über viele liegt, wenigstens ästhetisch, in der Schwierigkeit, sie zu errichten und aufrechtzuerhalten. Das ist es auch, was uns von Freeländern unterscheidet: Wir investieren (erfolgreich) in ein politisches System.